Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative

Bern, 22.06.2011 - An der Medienkonferenz des Bundesrates informierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga über die Botschaft zur Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative, die in der Volksabstimmung Ende November 2008 angenommen worden war. Sie wies darauf hin, dass in einigen Punkten noch Klärungsbedarf bestehe. Der Bundesrat unterbreite dem Parlament mit der Botschaft nun einen Vorschlag, wie die neue Verfassungsbestimmung auf Gesetzesstufe konkretisiert werden solle. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

Der Bundesrat hat heute die Botschaft zur Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative verabschiedet.

Sie erinnern sich: Ende November 2008 sagten die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ja zur Unverjährbarkeitsinitiative. Diese verlangte die Abschaffung von Verjährungsfristen für pädokriminelle Straftaten.

Auch der Bundesrat und das Parlament hatten sich mit ihrem indirekten Gegenvorschlag für ein verschärftes Vorgehen gegen pädophile Straftäter sowie für einen besseren Kindes- und Opferschutz eingesetzt. Mit neuen Verjährungsregeln sollten die Bedürfnisse der jungen Opfer von schweren Sexualdelikten und schwersten Gewaltdelikten besser berücksichtigt werden können. Bundesrat und Parlament konnten aber die Mehrheit der Stimmenden nicht von ihrer Lösung überzeugen. Mit der Zustimmung zur Volksinitiative lehnte das Volk implizit auch den indirekten Gegenvorschlag ab.

Der Bundesrat unterbreitet dem Parlament jetzt mit der Botschaft einen Vorschlag, wie die neue Verfassungsbestimmung auf Gesetzesstufe konkretisiert werden soll. Eine Konkretisierung ist nötig, um Rechtssicherheit sowie eine wirksame und einheitliche Anwendung durch die Strafverfolgungsbehörden zu gewährleisten.

Zur Erinnerung: Der Artikel 123b der Bundesverfassung, den Volk und Stände gutgeheissen haben, lautet wie folgt:
„Die Verfolgung sexueller und pornografischer Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Straftaten sind unverjährbar."

Der Artikel enthält also zwei unbestimmte Begriffe: Erstens den Begriff „Kinder vor der Pubertät", zweitens den Begriff „sexuelle oder pornografische Straftaten". Diese Begriffe werden nun definiert. Es muss allen klar sein, welche Opfer durch diesen Verfassungsartikel besonders geschützt werden sollen, und welche Delikte unverjährbar sein sollen.

Geklärt werden muss also zum einen der Begriff „Kinder vor der Pubertät". Er ist in der schweizerischen Rechtsordnung bisher nicht bekannt. Es bestünde also die Gefahr, wenn wir das nicht klären, dass Behörden ihn uneinheitlich auslegen würden. Dies wiederum würde zu einer grossen Rechtsunsicherheit und möglicherweise zu erheblichen Ungleichbehandlungen führen, und zwar sowohl für die Opfer wie für die Täter. Damit würde das Ziel der Initiative letztlich nicht erreicht.

Ein weiteres Problem mit dem Begriff „Kinder vor der Pubertät" besteht darin, dass es - zum Teil Jahre nach einer Tat - kaum nachzuweisen wäre, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Tat vor der Pubertät stand. In vielen Fällen dürfte es also dann nicht gelingen, diesen Nachweis zu erbringen. In diesen Fällen würde dann die Tat verjähren.

Der Bundesrat will solche Schwierigkeiten vermeiden und schlägt deshalb ein klares und objektives Kriterium vor, nämlich: das Alter, das Alter des Opfers zum Zeitpunkt der strafbaren Handlung.

In der Vernehmlassung hat der Bundesrat eine Altersgrenze von zehn Jahren vorgeschlagen. Das heisst: Wenn das Opfer zum Zeitpunkt der Tat noch nicht zehn Jahre alt war, verjährt die Tat nicht.

Aufgrund von Einwänden in der Vernehmlassung, vor allem auch von medizinischen Organisationen, schlägt der Bundesrat nun eine Altersgrenze von zwölf Jahren vor. Er ist überzeugt, dass diese Lösung die Gefahren der Pädokriminalität angemessen berücksichtigt und Kinder im Vorpubertätsalter angemessen schützt. Eine noch höhere Altersgrenze, wie dies vereinzelt gefordert worden ist, hält der Bundesrat nicht für zweckmässig. Denn mit der neuen Verfassungsbestimmung sollen ja gerade sehr junge Kinder geschützt.

Klärungsbedarf besteht auch beim zweiten unbestimmten Begriff des neuen Verfassungsartikels, beim Begriff der „sexuellen oder pornografischen Straftaten". Dieser begriff entspricht keiner bestimmten Strafnorm und muss deshalb ebenfalls auf Gesetzesstufe konkretisiert werden. Denn: Für die Behörden sowie für die Opfer und die Täter muss klar sein, welche Straftaten unverjährbar sind. Für die Opfer wäre es unerträglich, wenn sie nicht von vornherein wüssten, ob die erlittenen Handlungen unverjährbar sind oder nicht. Eine solche Unklarheit stünde auch im Widerspruch zum Anliegen der Volksinitiative: Den Opfern genügend Zeit für den Entscheid einräumen, ob sie Anzeige erstatten sollen oder nicht.

Nach geltendem Recht verjähren die folgenden Delikte nicht: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und terroristische Handlungen. Die Unverjährbarkeit stellt also eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen der Verjährung dar. Die Ausnahme lässt sich nur mit der ausserordentlichen Schwere einer Straftat rechtfertigen.

Der Bundesrat schlägt daher vor, diesem Grundsatz auch bei der Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmung zu folgen. Das heisst: die Unverjährbarkeit soll künftig für schwerwiegende Taten an unter 12-Jährigen gelten, also für sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Schändung.

Nicht zum Katalog der unverjährbaren Straftaten gehört die Strafnorm gegen die Pornografie. Diese Strafnorm stellt in erster Linie das Zugänglichmachen, den Erwerb oder den Besitz von Kinderpornografie unter Strafe. Da in diesen Fällen kein direkter Kontakt zwischen Täter und Opfer stattfindet, wiegt die Tat im Vergleich zu anderen Straftaten gegen die sexuelle Integrität von Kindern weniger schwer. Personen, die bei der Herstellung von Kinderpornografie sexuelle Straftaten an Kindern begehen, können künftig hingegen lebenslang verfolgt werden; ihre Taten verjähren gemäss den neuen Gesetzesbestimmungen nicht.

Abschliessend noch etwas zum Inkrafttreten der Gesetzesbestimmungen und zu den Folgen für bereits begangene Straftaten: Die neue Verfassungsbestimmung ist am Tag der Abstimmung in Kraft getreten, also am 30. November 2008. Damit ist klar, dass schwere sexuelle Straftaten an Kindern unter zwölf Jahren nicht verjähren, die seit diesem Tag begangen wurden.

Auf Straftaten, die am Tag der Abstimmung bereits verjährt waren, kann die Unverjährbarkeit demgegenüber nicht angewendet werden. Verjährte Straftaten sind und bleiben verjährt. Dieser Grundsatz wird einstimmig von der Lehre und Rechtsprechung vertreten und ist kürzlich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt worden.

Unverjährbar sollen künftig aber auch jene Straftaten sein, die vor dem 30. November 2008 begangen wurden und an diesem Tag noch nicht verjährt waren. Der Bundesrat schlägt eine entsprechende Übergangsbestimmung vor. Wie bei den früheren Revisionen der Verjährungsfristen lässt er sich also auch hier von der Überlegung leiten, dass möglichst viele Opfer von der neuen Regelung profitieren sollen.

Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat das Anliegen, das sich im Ergebnis der Abstimmung vom 30. November 2008 manifestiert, immer ernst genommen. Heute hat er nun mit seiner Botschaft ans Parlament die Voraussetzungen für die konkrete Anwendung der neuen Verfassungsbestimmung geschaffen.


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Letzte Änderung 19.01.2023

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