"An den Aussengrenzen braucht es schärfere Kontrollen"

Intervista, 4 maggio 2023: NZZ; Daniel Gerny, Fabian Schäfer

(Questo contenuto non è disponibile in italiano.)

Viele Migranten kämen aus ökonomischen Gründen nach Europa, sagt SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Sie hätten kein Anrecht auf Asyl. Da müsse man, konsequent sein, betont die Justizministerin.

Der Bundesrat will zusätzlich zu den bestehenden Bundesasylzentren Containerdörfer mit 3000 Plätzen realisieren. Dafür beantragt er 133 Millionen Franken. Wäre es nicht einfacher und günstiger, Armeezelte aufzubauen – so wie dies in der Flüchtlingskrise 2015 teilweise geschah?
Das würde aus verschiedenen Gründen nicht funktionieren. Es wäre kaum möglich, von der Armee überhaupt genügend Zelte zu erhalten. Zudem müssen wir den Herbst und den Winter im Blick behalten, Jahreszeiten also, für die sich Zelte nicht eignen. Auch Sicherheitsgründe sprechen gegen Zeltstädte: Containerdörfer sind einfacher zu organisieren und besser zu kontrollieren. Und schliesslich käme der Einsatz von Zelten unter dem Strich gar nicht viel günstiger.

Auch Zivilschutzanlagen gäbe es in der Schweiz genügend.
Auch das ist keine Lösung. Die Zivilschutzanlagen befinden sich im Kompetenzbereich der Kantone. Der Bund hat darauf keinen Zugriff. Die Kantone entscheiden zusammen mit den Gemeinden, wo und wie sie Asylsuchende unterbringen, die ihnen vom Bund zugewiesen werden. Gewisse Kantone nutzen Zivilschutzanlagen schon heute. Andere möchten dagegen nicht, dass Menschen für längere Zeit in unterirdischen Anlagen wohnen müssen. Dafür habe ich Verständnis.

Anfang Jahr rechnete der Bund mit 24 000 bis 40 000 neuen Asylgesuchen. Wie viele werden es gemäss aktuellen Prognosen sein?
Wir gehen heute von 27 000 bis 30 000 Personen aus. Aber Prognosen sind in diesem Bereich extrem schwierig. Wir wissen nur eines: Der Druck auf das Asylsystem wird vorerst nicht nachlassen.

Der Bundesrat will die Kantone verpflichten, einen Teil der Kosten für die 3000 zusätzlichen Plätze zu übernehmen. Weshalb?
Wir möchten verhindern, dass es erneut zu einer Situation wie im letzten Herbst kommt. Damals musste der Bund den Kantonen Asylsuchende vorzeitig zuweisen, also noch bevor das Asylverfahren abgeschlossen war. Das führte bei den Kantonen zu einer grossen Zusatzbelastung und zu Unmut. Weil wir mit steigenden Flüchtlingszahlen rechnen, müssen wir uns nun zusammen mit den Kantonen vorbereiten, damit wir keine frühzeitigen Zuweisungen mehr machen müssen.

Das Gesetz sieht aber vor, dass die Kosten für die Unterbringung während des Asylverfahrens vom Bund übernommen werden.
Im Prinzip ja. Das Gesetz schliesst aber eine Kostenbeteiligung der Kantone nicht aus – im Gegenteil: Wenn der Bund den Kantonen Asylsuchende vorzeitig zuweisen muss, müssen sie auch für zusätzliche Kosten aufkommen. Genau dies möchten wir nun mit der Schaffung neuer Unterkünfte verhindern. Deshalb ist es nur naheliegend, wenn sich die Kantone an den Kosten beteiligen. Es geht um mehr als um den rechtlichen Rahmen.

Nämlich?
Es gibt auch die politische Dimension. Bund und Kantone müssen ihr Vorgehen politisch koordinieren. Wir wollen verhindern, dass das Asylsystem im Herbst überlastet ist. Für viele Kantone ist die Belastungsgrenze schon jetzt erreicht. Sie sind darauf angewiesen, dass der Bund die Unterbringung bis zum Abschluss der Verfahren auch bei grossem Zustrom selber bewältigen kann. Sich dabei abzustimmen, bedeutet aber, auch über die Kosten zu sprechen. Nicht zuletzt, weil die finanzielle Situation der meisten Kantone komfortabel ist.

Die erste Reaktion der Kantone war nicht gerade positiv.
Das verstehe ich. Ich war ja selbst während 13 Jahren Mitglied einer Kantonsregierung und habe mich nicht gefreut, wenn es um Zusatzkosten ging.

Gehen Sie davon aus, dass die Kantone einlenken?
Wir führen am Donnerstag eine erste Aussprache. Es wird sicher nicht einfach, aber ich bin überzeugt, dass die Kantone wissen, wie wichtig jetzt eine gute Zusammenarbeit ist. Ich werde mir die Zeit nehmen, um gemeinsam mit ihnen eine gute Lösung zu finden.

Sie selbst wollten eigentlich keine Beteiligung der Kantone, sind dann aber im Bundesrat überstimmt worden. So hört man es jedenfalls. Vor allem das Finanzdepartement von Bundesrätin Karin Keller-Sutter habe auf einen Einbezug der Kantone gedrängt.
Die Diskussionen im Bundesrat sind vertraulich. Es gibt einen Entscheid, und mit dem Entscheid bin ich einverstanden. Es ist normal, dass ein wichtiges Thema wie die Migrationspolitik in der Regierung zu lebhaften Debatten führt.

Bundesrätin Keller-Sutter war Ihre Vorgängerin im Departement. Wo wollen Sie andere Akzente setzen als sie?
Ich habe nicht den Eindruck, dass ich etwas grundsätzlich anders machen müsste als meine Vorgängerin. Zentral ist für mich die Integration der Geflüchteten. Rund 60 Prozent der Asylsuchenden erhalten bei uns Schutz. Das bedeutet, dass unser System gut funktioniert und viele Leute kommen, die tatsächlich einen Anspruch darauf haben, in der Schweiz zu bleiben. Deshalb ist es so wichtig, früh mit der Integration zu beginnen.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat bei der Beurteilung von Asylgesuchen einen Ermessensspielraum. Werden Sie Vorgaben machen, diesen Spielraum anders zu nutzen, als dies unter Ihrer freisinnigen Vorgängerin der Fall war?
Nein. Und wenn es so wäre, würde ich es Ihnen nicht sagen (lacht). Im Ernst: Ich habe heute nicht den Eindruck, dass ich etwas ändern muss. Aber natürlich stellen sich immer wieder neue Fragen, bei denen ich mit dem SEM besprechen werde, wie wir den Spielraum nutzen, den uns der Rechtsrahmen lässt.

Die Asylzahlen steigen mitten im Wahljahr, die SVP will die Asylpolitik zum Thema machen. Fürchten Sie sich vor dem Wahlkampf?
Nein. Mich besorgt aber, dass es während eines Wahljahres schwierig ist, mit der nötigen Ruhe über Herausforderungen zu sprechen. Es wäre wichtig, sich auf die Fakten und die Realität zu konzentrieren, statt Angst zu verbreiten. Doch gerade vor den Wahlen haben daran nicht alle Parteien Interesse.

Viele Leute sind beunruhigt. Kann man solche Ängste nur mit den Wahlen erklären, oder muss man sie nicht doch ernst nehmen?
Man muss sie sogar sehr ernst nehmen. Aber nicht alle Ängste sind wirklich begründet – und darauf muss man hinweisen. Vor einigen Wochen sorgte die Meldung für Aufregung, wonach in Windisch Mietern gekündigt worden sei, weil die Wohnungen für Asylbewerber benötigt würden. Hinterher zeigte sich, dass der Grund für die Kündigungen ein ganz anderer war. Das Beispiel zeigt sehr gut, wie verheerend es ist, wenn man die Leute nicht richtig informiert – und ihnen so Angst einjagt.

Italien weigert sich, Flüchtlinge zurückzunehmen, die in Italien bereits ein Asylgesuch gestellt haben. Wann ist dieses Problem gelöst?
Italien bleibt voraussichtlich noch mehrere Monate bei dieser Praxis. Ich sehe jedenfalls keine Anzeichen dafür, dass sich etwas bewegt. Der Druck an Italiens Südgrenze ist enorm, weshalb die Haltung teilweise verständlich ist. Es geht dabei allerdings nicht um Tausende von Personen. Die Schweiz hat Italien in etwa 300 Fällen um eine Rückübernahme ersucht. In rund 40 Fällen ist die Zuständigkeit inzwischen auf uns übergegangen, weil sechs Monate verstrichen sind.

Das bedeutet doch, dass die Schweiz unter Druck steht.
Das Problem betrifft ja nicht nur die Schweiz, sondern alle europäischen Länder. Die Frage ist, wie viel wir mit zusätzlichem Druck erreichen. Ich bin froh, dass die zuständigen Parlamentskommissionen davon abgesehen haben, Unterstützungsprogramme zu stoppen, um Italien zum Einlenken zu bewegen. Das würde nichts bringen. Wir müssen mit Italien eine Lösung im Gespräch finden. Ich werde mich demnächst mit Innenminister Matteo Piantedosi treffen.

Die Sekundärmigration innerhalb Europas ist generell ein Problem. Was sind Ihre Vorschläge, um diesem Problem entgegenzuwirken?
Mit Deutschland und Österreich haben wir jeweils einen Aktionsplan vereinbart, um die irreguläre Migration einzudämmen. Mit Frankreich sind wir im Gespräch. Grundsätzlich muss das auf europäischer Ebene gelöst werden, und ich bin zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Es besteht ein Interesse, die Reform des Dublin-Systems voranzubringen, bevor im Frühjahr 2024 die Wahlen des Europäischen Parlamentes stattfinden.

Was erwarten Sie konkret?
Es braucht an den Schengen-Aussengrenzen schärfere Kontrollen bei den Einreisen. Es sind viele Leute unterwegs, die aus ökonomischen Gründen nach Europa kommen wollen. Sie haben keinen Anspruch auf Asyl. Da muss man konsequent sein. Im Gegenzug muss die Solidarität bei der Verteilung der Aufgenommenen unter den europäischen Ländern verbessert werden.

Christine Schraner Burgener, Staatssekretärin für Migration, hat vorgeschlagen, Asylzentren an den Aussengrenzen zu schaffen und die Verfahren dort statt in den einzelnen Ländern durchzuführen. Wäre dies auch Ihr Lösungsvorschlag?
Es geht um eine bessere Überprüfung an der Aussengrenze. Das gehört zur geplanten Reform des europäischen Asyl- und Migrationssystems. Doch es wäre zu optimistisch, damit schon jetzt zu rechnen.

Grossbritannien will externe Asylzentren in Rwanda einrichten, um unerwünschte Migranten fernzuhalten. Ist das eine Option für die Schweiz?
Nein. Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Briten diesen Plan realisieren werden. Für die Schweiz kommt das ohnehin nicht infrage. Wir können diese wichtige Aufgabe nicht so einfach auslagern. Und seien wir ehrlich: Der Druck bei uns mag zurzeit gross sein, aber schauen wir nur einmal nach Polen, wo Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer Schutz gefunden haben und weiterhin finden. Da kann die reiche Schweiz dieses Problem doch nicht einfach exportieren.

Aus Afghanistan wandern zurzeit viele unbegleitete Minderjährige in die Schweiz ein. Wie beurteilen Sie die Situation?
Sie ist schwierig. Viele afghanische Jugendliche sind bereits hier, und es werden wohl noch mehr kommen. Wir müssen uns bewusst sein, dass ein Teil von ihnen bleiben wird. Also müssen wir darüber nachdenken, wie wir sie besser integrieren können. Das ist nicht einfach, die kulturellen Unterschiede sind tatsächlich gross. Wir arbeiten auch daran, herauszufinden, weshalb sie so zahlreich in die Schweiz kommen. Sind Schlepper im Spiel? Das wollen wir wissen.

Müssen Bund und Kantone mehr Geld aufwenden, um die Integration zu verbessern?
Beim Bund ist eine Krediterhöhung unrealistisch. Wir müssen mit den bestehenden Budgets Prioritäten setzen. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir mit diesen Jugendlichen langfristig beträchtliche soziale Probleme haben. Das darf nicht sein. Heute sind sie zwischen 16 und 18 Jahre alt. Die Zeit drängt. Wir arbeiten mit den Kantonen daran, neue Programme zu entwerfen.

Sprechen wir über den Status S für Ukrainer: Er ist einerseits rückkehrorientiert, andererseits unterstützen Bund und Kantone die Integration. Wie gehen Sie mit diesem Widerspruch um?
Das ist tatsächlich ein Dilemma, das nicht einfach aufzulösen ist. Wichtig ist mir, dass diese Personen eines Tages mit Fähigkeiten und Energie in ihre Heimat zurückkehren können. Fast alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich treffe, sagen mir, dass sie heimreisen wollen, sobald es möglich ist. Sie sind praktisch dauernd in Kontakt mit Menschen in der Ukraine. Es gibt Jugendliche, die von hier aus ein ukrainisches Fernstudium absolvieren.

Es gibt auch solche, die hier eine Lehre absolvieren. Sollen sie diese beenden können, auch wenn der Krieg vorbei ist?
Ja. Das ist nicht nur für die Jungen selbst wichtig, sondern auch für die Firmen. Ich bin überzeugt, dass auch diese Personen nach dem Krieg zurückkehren werden. In der ukrainischen Gemeinschaft ist ein enormes Zusammengehörigkeitsgefühl zu spüren, eine starke Verbundenheit mit der Heimat. Wenn wir diesen Menschen ermöglichen, hier zu arbeiten und etwas zu lernen, ist das ein wichtiger Beitrag an den Wiederaufbau ihres Landes.

Wie wird der Ablauf sein, wenn der Status S einmal aufgehoben werden kann?
Klar ist, dass wir das gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern beschliessen und umsetzen werden. In der Schweiz haben wir eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um uns vorzubereiten. Vermutlich müssen wir mit grosszügigen Übergangsfristen arbeiten, um die Menschen nicht zu überfordern. Niemand weiss, wie lange der Krieg dauert. Doch auch wenn ich keine Hellseherin bin, so bin ich doch überzeugt, dass der grösste Teil der Ukrainer freiwillig nach Hause zurückkehren wird.

Viel zu reden gibt die Ungleichbehandlung zwischen den Flüchtlingen mit dem Status S und anderen Gruppen von Asylsuchenden. Nun müssen Ukrainer manchenorts ihre Autos abgeben, damit sie weiterhin Sozialhilfe erhalten. Finden Sie das gut?
Das ist ein Entscheid, den die Kantone fällen müssen. Dazu werde ich mich nicht äussern. Klar ist, dass es keine allgemein gültige Lösung gibt. Man muss das für jeden Einzelfall sorgfältig analysieren.

Ist es nicht etwas kleinlich, Leuten, die vor dem Krieg flohen und nun temporär hier leben, das Auto wegzunehmen?
Das kann man so sehen. Aber man darf nicht vergessen, dass für alle anderen Sozialhilfebezüger in der Schweiz deutlich strengere Regeln gelten. Ich war selbst Sozialarbeiterin und habe mit Betroffenen Haushaltsbudgets gemacht. Sie müssen immer alles offenlegen und für kleinste Ausgaben Anträge einreichen, die oft abgelehnt werden. Solche Menschen haben Mühe, wenn sie sehen, dass andere Sozialhilfe erhalten und gleichzeitig mit einem Auto herumfahren dürfen. Wir dürfen nicht Arme gegen andere Arme ausspielen. Das sind heikle Themen.

Möglicherweise spitzt sich die Asylkrise in den nächsten Wochen zu. Ist das der nächste Fall, in dem der Bundesrat mit Notrecht intervenieren wird?
Sicher nicht. Die Kreditvorlage für zusätzliche Unterkünfte, die der Bundesrat beschlossen hat, dient ja gerade dazu, die Lage innerhalb des ordentlichen Rechts zu meistern. Das zeigt: Wir bereiten uns vor, damit wir kein Notrecht einsetzen müssen. Man kann die asylpolitische Situation nicht ansatzweise vergleichen mit der Krise der CS oder mit dem Coronavirus. Notrecht ist keine Option.

Der Bundesrat hat nun mehrmals nacheinander mit Notverordnungen operiert und damit grosses Unbehagen ausgelöst. Können Sie das verstehen?
Natürlich. Aber ich möchte betonen, dass der Bundesrat sich in allen Fällen innerhalb der Verfassung bewegt hat. Diese gibt ihm die Möglichkeit und die Verantwortung, schnell und entschlossen zu handeln, wenn es die Lage erfordert.

Sie als Justizministerin und oberste Chefin des Bundesamts für Justiz tragen eine besondere Verantwortung, wenn es um die Frage geht, ob Notrecht gerechtfertigt ist oder nicht. Konnten Sie diese Rolle Mitte März bei der Übernahme der CS wahrnehmen, obwohl sie extrem schnell durchgezogen wurde?
Ja, absolut. Wir hatten zwar nur vier Tage, um alle Entscheide vorzubereiten. Aber wir haben uns die Zeit genommen, um auch die juristischen Fragen gründlich zu diskutieren. Wir waren uns einig, dass die Entscheide auch unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht nur zulässig, sondern notwendig waren.

Info complementari

Comunicati

Per visualizzare i comunicati stampa è necessaria Java Script. Se non si desidera o può attivare Java Script può utilizzare il link sottostante con possibilità di andare alla pagina del portale informativo dell’amministrazione federale e là per leggere i messaggi.

Portale informativo dell’amministrazione federale

Discorsi

Per visualizzare i comunicati stampa è necessaria Java Script. Se non si desidera o può attivare Java Script può utilizzare il link sottostante con possibilità di andare alla pagina del portale informativo dell’amministrazione federale e là per leggere i messaggi.

Portale informativo dell’amministrazione federale

Interviste

Ultima modifica 04.05.2023

Inizio pagina