Intervista, 27 luglio 2023: Schweizer Familie; Daniel Röthlisberger
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Auf dem Hof der Eltern und in der Sozialarbeit schärfte sie ihren Sinn für Gerechtigkeit. Dies prägt Elisabeth Baume-Schneider auch als Bundesrätin. Ein Gespräch über Fairness, magische Momente und ihre jurassische Heimat.
Die Bundesrätin zögert keinen Moment. Als im Café du Soleil in Saignelégier die Käse- und die Fleischplatte aufgetragen werden, nimmt nicht nur das Team der "Schweizer Familie" Platz. Elisabeth Baume-Schneider bittet auch ihre Mitarbeiter an die Tafel. Dazu die Wirtin, den Chauffeur und die beiden Polizisten, die sie begleiten. "Der Tisch ist lang, da haben alle Platz", sagt die Magistratin. "So ist das bei uns. Willkommen im Jura."
Frau Bundesrätin, was mögen Sie an langen, voll besetzten Tischen?
Ich bin ein geselliger Mensch. Als Kind lebte ich mit den Eltern und Grosseltern zusammen. Später wohnte ich mit meinem Mann, unseren beiden Söhnen und meinem verwitweten Vater unter einem Dach. Das hat mich geprägt.
Werden Sie sich also auch am 1. August unters Volk mischen?
Das habe ich vor. Ich werde auf einem Bauernhof im Muotatal brunchen. Dort knüpfe ich Beziehungen, pflege die Gemeinschaft. Das Miteinander ist mir ebenso wichtig wie Traditionen.
Zudem treten Sie als Rednerin auf dem Rütli auf. Was ist Ihre Botschaft?
Ich würdige die Bundesverfassung. Die feiert heuer ihr 175-Jahr-Jubiläum. Sie mag zwar alt sein. Aber sie wurde laufend angepasst und ist modern geblieben. Sie ist aktueller denn je.
Inwiefern?
Schon in der Präambel steht, dass wir die Schwächsten nicht vergessen sollten. Und wie wichtig es ist, dass wir respektvoll miteinander umgehen. Daran müssen wir uns wieder vermehrt erinnern.
Worauf spielen Sie an?
Auf den Umgang miteinander. Der macht mir Sorgen. Es ist beängstigend, wie viele Leute in den sozialen Medien Falschnachrichten verbreiten und mit welchem Hass sie sich im Alltag begegnen.
Hat sich das im Zuge der Corona-Pandemie verschärft?
Das stelle ich fest. Aber die Pandemie ist nicht die einzige Erklärung dafür. Es ist leider ein Trend, dass man sich gegenseitig und auch die Institutionen immer heftiger kritisiert. Deshalb tut es not, dass wir uns auf die Werte in unserer Verfassung besinnen. Da nehme ich uns Politikerinnen und Politiker nicht aus.
Weil auch unter Ihnen der Ton rauer geworden ist?
Ja. Dabei sollten wir Vorbilder sein. Wir müssen den respektvollen Umgang miteinander vorleben.
Auf Ihren Wunsch treffen wir uns im Kulturzentrum Café du Soleil. Was verbindet Sie mit diesem Ort?
Seit vielen Jahren besuche ich diesen Ort der Kultur. Am liebsten hörte ich früher Livemusik – französische Chansons oder Free Jazz. Ich entdeckte Künstlerinnen und Künstler an Vernissagen. Lauschte den Lesungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Was macht dieses Restaurant so besonders?
Es ist die Offenheit, die hier gelebt wird. Im Café du Soleil vereinen sich Intellekt und Emotionen. Hier treffen sich Deutschschweizer und Romands. Und drinnen am runden Tisch sitzen Leute aus allen Schichten beisammen: der Unternehmer, der Bauer, die Künstlerin.
In den Siebzigerjahren war Saignelégier eine Hochburg der Separatisten, die für die Schaffung eines Kantons Jura kämpften. Wie stark waren Sie involviert?
Nur am Rande. Denn ich war damals noch ein Kind. Aber ich erinnere mich an den Tag, als der Jura gegründet wurde. Da war ich bei einer Kollegin zum Mittagessen. Dort feierten wir unseren Kanton, und ich durfte ein Gläschen Weisswein trinken. Für meinen Vater aber war das kein Freudentag.
Weil er aus dem Kanton Bern stammte?
Genau. Aber mein Vater war auch Demokrat. Er akzeptierte den Volksentscheid und sah sich von da an als Jurassier. Später wurde er sogar in den Gemeinderat von Les Bois gewählt.
In diesem Dorf sind Sie als Bauerntochter aufgewachsen. Wie hat Sie das geprägt?
Meine Schwester und ich, wir mussten schon als Kinder auf dem Hof mit anpacken. Für uns war das keine Last. Wir fühlten uns wertgeschätzt und lernten früh, Verantwortung zu übernehmen. Zudem schärfte das Leben auf dem Hof meinen Sinn für soziale Gerechtigkeit.
Warum denn?
Weil wir Saisonarbeiter beschäftigten, die mit uns am Tisch sassen. So erfuhr ich, wie viele darunter litten, dass sie ohne Frau und Kinder in einem fremden Land lebten und nach neun Monaten wieder ausreisen mussten. Ich fand das ungerecht, litt mit ihnen.
Wo packten Sie selbst am liebsten mit an?
Ich war gern im Stall und molk die Kühe. Am liebsten aber sass ich auf dem Traktor. Wenn ich das Heu mit der Maschine zusammenrechte, las ich dabei gelegentlich sogar ein Buch. Dafür verliefen die Heureihen im Zickzack.
Sie lachen jetzt. Aber Ihre Eltern mussten den Pachthof verlassen, weil dort ein Golfplatz gebaut wurde, wie Sie einmal erzählten. Wie gingen Sie damit um?
Das war ein Schock. Obwohl meine Eltern kurz vor der Pensionierung standen, gaben wir nicht klein bei. Ich kämpfte, um das Landwirtschaftsland zu erhalten. Und wir mobilisierten. 89 Prozent der Stimmbevölkerung gingen 1989 an die Urne. Am Ende verloren wir mit vierzehn Stimmen.
Dieses Erlebnis habe Sie politisiert, sagten Sie.
Ich war zuvor schon politisch aktiv. Aber trotzdem hat mir diese Erfahrung gezeigt, wie viel man mit Engagement erreichen kann. Nach der verlorenen Abstimmung wollte ich weiterkämpfen, wollte mich für soziale Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen.
Heute sind Sie Bundesrätin und leben wieder in einem Bauernhaus. Was schätzen Sie daran?
Die Ruhe und die Natur. Unser Jurahaus von 1703 liegt in den Freibergen. Es ist umgeben von Weiden, von Kühen und Pferden. Für mich ist dieser Ort eine Oase. Wenn möglich, kehre ich am Wochenende von Bern nach Hause zurück. Hier tanke ich auf, schalte ab. Ich spüre meine Wurzeln.
Wie oft arbeiten Sie noch als Bäuerin?
Wir haben keinen Bauernhof mehr. Aber ich gehe meinem Mann im Garten zur Hand. Ich füttere die Katze. Und ich schaue manchmal zu den vier Schwarznasenschafen.
Wegen dieser Tiere seien Sie in die Landesregierung gewählt worden, analysierten Politbeobachter spöttisch, nachdem Sie mit den Schafen im "Blick" posiert hatten. Was sagen Sie dazu?
Ich muss schmunzeln. Denn meine Wahl mag eine Überraschung gewesen sein, aber ich bin keine zufällige Bundesrätin. Immerhin war ich dreizehn Jahre Regierungsrätin. Trotz all der spöttischen Einschätzungen stehe ich dazu: Meine Schwarznasen liegen mir am Herzen.
Was mögen Sie an diesen Tieren?
Sie sind sympathisch, einfach herzig. Sie sind anpassungsfähig und genügsam.
Wo sehen Sie vom Naturell her Ähnlichkeiten zwischen den Tieren und Ihnen?
Ich bin auch bodenständig und widerstandsfähig. Selbst in hektischen Situationen lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen.
Das dürfte Ihnen in Ihrem Beruf geholfen haben. Dreizehn Jahre lang waren Sie bis 2002 als Sozialarbeiterin tätig. Welches Erlebnis werden Sie nie vergessen?
Da gibt es einige. Denn ich war mit Herzblut bei der Arbeit. Aber die Geschichte eines Jungen überstrahlt alle anderen.
Erzählen Sie.
Ich übernahm für zwei Jahre die Vormundschaft für ein Baby, das zur Adoption freigegeben worden war. Obwohl der Junge später eine eigene Familie hatte, verlor ich ihn nie aus den Augen. Als Erziehungsdirektorin übergab ich ihm das Diplom, nachdem er seine Ausbildung auf der Sekundarstufe II abgeschlossen hatte. Danach machte er eine Ausbildung im Sozialbereich. Es ist eine Freude mitzuerleben, was aus dem kleinen Jungen von damals geworden ist.
Wie haben Ihnen die Erfahrungen als Sozialarbeiterin in der Politik geholfen?
Ich habe gelernt, in Prozessen zu denken, stets Alternativen zu haben. Zudem kann ich mit unzufriedenen Menschen umgehen und zuhören. Aber ich bin nicht nur die Nette und Charmante, als die ich gern dargestellt werde.
Sondern?
Ich kann unbequem und hartnäckig sein. Ich gebe auch mal den Tarif durch.
Als Justizministerin stehen Sie mit dem Asyldossier unter Beschuss. Die Rechte warnt wegen der steigenden Flüchtlingszahlen vor einem Chaos und fordert Restriktionen. Was sagen Sie dazu?
Dass wir eine humanitäre Pflicht haben. Wir müssen von Gesetzes wegen jenen Menschen Schutz gewähren, die verfolgt werden. Momentan steigen die Zahlen. So rechnet das Staatssekretariat für Migration in diesem Jahr mit 27 000 bis 30 000 Flüchtlingen. Das wären zwar mehr als im Vorjahr. Aber es wäre eine Zahl, die wir bewältigen können.
Obwohl Ihr Plan zum Bau von Asylunterkünften in Containern kürzlich vom Parlament abgelehnt wurde?
Ja. Denn wir sind mit der Armee sowie mit den Kantonen und Gemeinden im Gespräch, um zusätzliche Unterkünfte zu finden. Das wird zwar eine Herausforderung. Aber ich bin mir sicher, dass es kein Chaos geben wird.
Im Land fehlen 120 000 Fachkräfte. Trotzdem dürfen die meisten Flüchtlinge nicht arbeiten. Was sagen Sie zu diesem Widerspruch?
Der ist gar nicht so gross. Denn sobald der Asylentscheid getroffen ist, dürfen die Flüchtlinge arbeiten. Deshalb ist es wichtig, die Pendenzen im Asylverfahren abzubauen, damit die Leute rasch Klarheit haben. Doch selbst dann bleibt der Zugang zum Arbeitsmarkt schwierig. Das zeigt das Beispiel Ukraine. Obwohl die ukrainischen Flüchtlinge arbeiten dürfen, sind nur 18 Prozent der arbeitsfähigen Personen im Arbeitsprozess.
Wie liesse sich das ändern?
Indem wir Flüchtlinge sprachlich besser fördern. Mein Departement hat zudem entschieden, dass Jugendliche aus der Ukraine ihre Lehre hier abschliessen dürfen. Aber das reicht nicht.
Welche Ideen haben Sie noch?
Wir könnten in Berufen, in denen ein akuter Mangel an Fachkräften herrscht – wie etwa im Gesundheitsbereich –, vermehrt Flüchtlinge ausbilden. Kleinere Projekte sind bereits angelaufen. Das macht mir Hoffnung. Aber in Zukunft müssen wir das Potenzial von Migranten noch besser nutzen.
Sie sind seit sieben Monaten im Amt, Ihre Agenda ist voll. Was tun Sie, wenn Sie nicht regieren?
Ich gehe ins Kino. Oder ich lese ein Buch – einen Krimi oder eine Biografie.
Und fühlen sich wie seinerzeit auf dem Traktor?
Ich geniesse diese kleinen Auszeiten. Aber ich fahre keinen Zickzackkurs mehr.
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