"Bis 60 Prozent verschwinden"

Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 10. September 2016: St. Galler Tagblatt, Tobias Bär und Fabian Fellmann.

St. Galler Tagblatt: "Staatssekretär Mario Gattiker äussert sich zur hohen Zahl der Migranten, die untertauchen – und er spricht über die Situation an der Schweizer Südgrenze."

Herr Gattiker, im Bundesasylzentrum in Kreuzlingen sollen 90 Prozent aller Gesuchsteller unmittelbar nach ihrer Ankunft untertauchen. Trifft diese Meldung der «Sonntags-Zeitung» zu?
Die Zahl ist viel zu hoch. Sie ist eine Momentaufnahme für einen einzelnen Tag. Wahr aber ist: Jedes europäische Land kennt das Phänomen der irregulären Abreisen. Bislang verschwanden Asylsuchende vor allem nach Abschluss des Asylverfahrens. Seit diesem Sommer haben wir eine neue Entwicklung: Die Leute geben an, ein Asylgesuch stellen zu wollen, reisen dann aber vor der Befragung weiter.

Wie viele sind das?
Von Juni bis August sind bis zu 40 Prozent aller Personen, die dem Grenzwachtkorps erklärt hatten, in der Schweiz ein Asylgesuch stellen zu wollen, noch vor der vollständigen Erfassung des Asylgesuchs verschwunden. Von den Menschen, die tatsächlich ein Asylgesuch einreichen, reisen weitere 20 Prozent irregulär ab. Insgesamt verschwinden bis zu 60 Prozent.

Wie können Sie diesem Phänomen begegnen?
Personen im Asylverfahren befinden sich nicht im Freiheitsentzug. Das Parlament hat sich mehrmals gegen geschlossene Zentren ausgesprochen. Das Problem lässt sich also nicht vollständig beheben, man kann ihm allerdings entgegenwirken.

Was können Sie tun?
Die Kapazitäten in Chiasso sind beschränkt, wir verteilen die Asylsuchenden darum auf die Bundeszentren in der ganzen Schweiz. In der Vergangenheit fuhren die Asylsuchenden mit dem öffentlichen Verkehr in die anderen Zentren. Inzwischen haben wir begonnen, grössere Gruppen mit Bussen von Chiasso in die Bundeszentren zu transportieren. Überdies wird das Aussteigen der Asylsuchenden aus den Bussen sowie der Eintritt in die Zentren von Angehörigen des Grenzwachtkorps respektive vom Sicherheitspersonal überwacht. Nach Möglichkeit bringen wir die Leute nicht in die Zentren in Basel und Kreuzlingen und damit nicht direkt an die deutsche Grenze.

Was sind die Gründe für die grosse Zahl der irregulären Weiterreisen?
Die konsequente Asylpraxis der Schweiz und das Vorgehen Italiens wirken zusammen. Italien registriert Asylsuchende inzwischen fast systematisch. Die Schweiz wiederum behandelt Dublin-Fälle prioritär. Wer schon in Italien ein Asylgesuch gestellt hat, muss hierzulande mit einem raschen Dublin-Entscheid rechnen und wird gegebenenfalls nach Italien rücküberstellt. Deshalb versuchen viele Migranten, die Schweiz zu durchqueren oder zu umgehen, um in andere europäische Länder weiterzureisen, wo sie sich bessere Perspektiven erhoffen.

Zum Beispiel nach Deutschland: Dass die Schweiz zum Transitland wird, ist also eine Folge der deutschen Asylpolitik.
Die Schweiz ist kein Transitland für irreguläre Migration, und wir tun unser Möglichstes, damit dies so bleibt. Zu Deutschland kann ich nur so viel sagen: Das Land hat ein Vielfaches unserer Asylgesuche, aber nicht mehr Überstellungen als die Schweiz. Auch ist es so, dass in Deutschland einzelne Gruppen sehr schnell einen positiven Entscheid erhalten. Dazu kommt, dass die Kantone abgewiesene Asylsuchende konsequent zurückführen.

Wobei das auf den Kanton Waadt nicht zutrifft.
Die Waadt vollzieht Wegweisungen tatsächlich weniger konsequent als andere Kantone. Wir sind mit den dortigen Behörden in Kontakt, damit sich dies ändert. Es ist klar: Zu einer glaubwürdigen Asylpolitik gehört auch ein konsequenter Wegweisungsvollzug.

Dass Deutschland im Vergleich zur Schweiz eine weichere Asylpolitik fährt, schlägt sich in der Zahl der Asylgesuche nieder. Das müsste Sie freuen.
Es ist nicht so, dass wir uns die Hände reiben, weil wir derzeit weniger stark im Fokus stehen als Deutschland. Wenn das Dublin-System von allen Staaten konsequent angewendet wird, dann werden wiederum die Staaten an den EU-Aussengrenzen stark belastet. Deshalb braucht es einen europäischen Verteilmechanismus. Gerade diese Woche hat die Schweiz im Rahmen des sogenannten Relocation-Programms von Italien 38 Asylsuchende übernommen. Und ich erinnere daran, dass wir im europäischen Vergleich und im Verhältnis zur Bevölkerungszahl immer noch überdurchschnittlich viele Asylsuchende haben.

Im Juli ging ein Drittel weniger Asylgesuche ein als im gleichen Monat des Vorjahres. Wie sehen die Zahlen für den Monat August aus?
Im August registrierten wir 2443 Asylgesuche. Die Zahlen sind derzeit vergleichbar mit 2014, damals hatten wir am Ende 23 800 Asylgesuche. In diesem Jahr werden wir natürlich mehr Gesuche haben – wir rechnen mit rund 30 000 –, weil zu Beginn des Jahres und bis zum Abschluss des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei noch viele Asylsuchende in die Schweiz gekommen sind.

Die Türkei droht, den Deal platzen zu lassen, wenn ihre Bürger keine Visafreiheit für die EU erhalten.
Im Migrationsbereich müssen wir mit rasch wechselnden Verhältnissen rechnen. Für das kommende Jahr gehen wir derzeit aber von etwas weniger Gesuchen aus als im laufenden Jahr. Grundsätzlich zeichnet sich für die kommenden Jahre aber keine Entspannung ab. In Syrien sind weite Teile des Landes zerstört. Das wird uns auch dann noch beschäftigen, wenn es einen Frieden geben sollte. Die libysche Küste wird von Gruppierungen kontrolliert, die vom Geschäft mit den Flüchtlingen leben. Hinzu kommt der Krisenherd Ukraine, der oft vergessen wird.

Bund, Kantone und Gemeinden sind also weiterhin auf Unterkünfte angewiesen. Im Kanton Schwyz stossen Pläne für ein Ausreisezentrum aber auf grossen Widerstand, die Urner Regierung hat Pläne für ein kantonales Zentrum in Seelisberg nach heftiger Kritik sistiert.
Es ist unsere Kultur, dass wir im Dialog Lösungen suchen. Es ist wünschenswert, dass solche Projekte sowohl von den Standortgemeinden wie auch von der Bevölkerung getragen werden. Gleichzeitig haben wir das neue Asylgesetz zu vollziehen, das das Volk mit gut 67 Prozent angenommen hat. Damit wir die beschleunigten Verfahren einführen können, braucht es zuerst die nötige Infrastruktur. Sobald eine Unterkunft in Betrieb ist und die Bevölkerung sieht, dass es funktioniert, steigt die Akzeptanz. Diese Erfahrung haben wir überall gemacht. Das Bundeszentrum im aargauischen Bremgarten sorgte vor dem Start für Schlagzeilen. Diesen Sommer nun hat der Stadtrat entschieden, dass nichts gegen eine Verlängerung des Betriebs spricht.

Seit Wochen erreichen uns Bilder von Migranten, die an der Schweizer Südgrenze unter freiem Himmel übernachten müssen. Waren Sie selber schon vor Ort?
Ich besuche die schweizerischitalienische Grenze und unser Zentrum in Chiasso regelmässig. Como ist zunächst einmal eine Angelegenheit der italienischen Behörden. Aber natürlich macht es betroffen, wenn Frauen und Kinder im Park schlafen müssen. Ich kann aber auch sagen: Sowohl das Grenzwachtkorps (GWK) als auch das SEM wenden das geltende Recht konsequent an.

Zu diesem Recht gehört, dass keine Personen zurückgewiesen werden, die ein Asylgesuch stellen wollen. Ist das gewährleistet?
Selbstverständlich hören wir uns die Beschwerden der Nichtregierungsorganisationen an. Wir prüfen, ob es an der Schnittstelle zwischen dem Grenzwachtkorps und dem Staatssekretariat für Migration Verbesserungspotenzial gibt. Wir müssen konkrete Einzelfälle anschauen und dann beurteilen, ob gewisse Abläufe angepasst werden müssen. Aber: Dass wir immer noch 2500 Asylgesuche pro Monat haben, zeigt ja, dass die Grenze für Asylsuchende nicht geschlossen ist. Wer ein Gesuch stellen will, der kommt ins Verfahren.

Auch dann, wenn Zweifel am Gesuch bestehen?
Wir haben zu Beginn über die hohe Zahl jener gesprochen, die untertauchen. Diese Personen haben offensichtlich nur vorgegeben, in der Schweiz ein Asylgesuch stellen zu wollen. Das zeigt, dass es ein effektives Problem gibt. Wer Schutz in der Schweiz sucht, muss Zugang zum Asylsystem haben. Gleichzeitig versteht sich, dass wir das geltende Recht anwenden. Es gibt kein «Laissez-faire» im Umgang mit Migration.

Letzte Änderung 10.09.2016

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