"Wir Frauen werden strenger beurteilt"

Interview, 2. Mai 2022: Blick; Sermîn Faki

Blick: "Beim von Ringier organisierten EqualVoice Summit in Zürich dreht sich heute alles um die Sichtbarkeit von Frauen in den Medien. Dort tritt neben weiteren prominenten Gästen auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter (58) auf. Als Justizministerin macht sie sich für die Bekämpfung von sexueller und häuslicher Gewalt stark, die Frauen überdurchschnittlich betrifft. Aus ihrer Sicht gibt es in Sachen Gleichstellung noch immer eine Menge zu tun. "

Wenn Sie die Medienberichterstattung über sich anschauen: Finden Sie, dass Sie weniger Eingang finden als Ihre männlichen Kollegen oder dass anders über Sie berichtet wird?
Bei den Mitgliedern des Bundesrats sehe ich eigentlich keinen Unterschied. Bei den Bundesrätinnen und Bundesräten hängt die Berichterstattung davon ab, welche Geschäfte sie vertreten oder welche Geschäfte die Öffentlichkeit interessieren – da ist man manchmal recht überrascht. Bei Mitgliedern des Parlaments sieht man schon einen Unterschied. Da werden oft Männer gefragt, obwohl es auch Frauen gibt, die auf einem Gebiet spezialisiert sind.

Sie waren früher selbst Ständerätin. Hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas verändert – oder funktionieren die medialen Mechanismen immer noch gleich?
Es hat sich verbessert. Mein Eindruck ist, dass die Klischees über Frauen etwas abgenommen haben – weil heute mehr Frauen wichtige Ämter in Wirtschaft, Politik und in gesellschaftlichen Funktionen ausüben. Als ich mit 36 Jahren Regierungsrätin in St. Gallen wurde und dann auch noch die Justiz- und Sicherheitsdirektion übernahm, habe ich schon Vorurteile gespürt. Das hat sich tendenziell verbessert.

Sie kleiden sich sehr modisch. Aber über Outfits wird gar nicht mehr berichtet. Finden Sie das eigentlich schade?
Nein, gar nicht. Die Kleidung sollte nicht im Vordergrund stehen. Ich versuche, mich so zu kleiden, dass es der Funktion angemessen ist – ich vertrete ja schliesslich die Landesregierung. Ich bin also ganz froh, dass nicht über meine Kleidung berichtet wird.

Wenn man Bundesräte auf Reisen begleitet, merkt man, dass die Männer mit einem Koffer auskommen, bei den Bundesrätinnen sind es meistens zwei. Wird immer noch erwartet, dass man sich als Frau bei einem Staatsbesuch ständig umzieht?
Auch hier steht die Kleidung nicht im Zentrum. Aber aus meiner Erfahrung ist es schon noch so, dass an Frauen in der Politik generell höhere Anforderungen gestellt werden als an Männer und wir Frauen stärker im Fokus stehen und strenger beurteilt werden. Und bürgerliche Frauen werden zudem noch für ihre Haltung kritisiert. Da hat sich wenig geändert.

Gleichstellung betrifft ja nicht nur die Darstellung von Frauen in den Medien oder die öffentliche Wahrnehmung, sondern viele Bereiche: Wo sehen Sie als Justizministerin politisch den grössten Handlungsbedarf?
Ganz klar bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das ist für mich die Kernfrage der Gleichstellung. Das ist übrigens nicht nur eine Frauenfrage. Es geht um Chancengleichheit für Frauen und Männer. Gerade junge Paare wünschen sich, gleichzeitig im Erwerbsleben zu stehen und Kinder zu erziehen – was ja auch für die Gesellschaft wichtig ist.

Und welches Vorurteil gegenüber Männern oder Frauen nervt Sie persönlich am meisten?
Mich ärgert, dass man Männern immer noch zuspricht, klar, analytisch und führungsstark zu sein, während Frauen als sensibel und emotional dargestellt werden. Ich habe in meiner Karriere beides erlebt: sehr emotionale, chaotische Männer und sehr führungsstarke, klare Frauen. Aber entscheidend ist nicht das Geschlecht, sondern die Persönlichkeit.

Weitere Infos

Dossier

  • 50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht

    Am 7. Februar 1971 beschloss das damals noch ausschliesslich aus Männern bestehende Stimmvolk die Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts auf eidgenössischer Ebene. Die politische Gleichstellung der Frauen jährt sich dieses Jahr zum fünfzigsten Mal. Um das staatspolitisch bedeutsame Ereignis zu würdigen, hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) am 2. September die offizielle Feier im Parlamentsgebäude in Bern organisiert.

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Letzte Änderung 02.05.2022

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