"Es ist eine zentrale Aufgabe des Staates, Leib und Leben der Menschen zu schützen"

Interview, 29. November 2022: 20 minuten online; Helena Müller und Celia Nogler

20 minuten online: "In der Schweiz gab es im letzten Jahr fast 20’000 Fälle von häuslicher Gewalt. In einer mehrteiligen Serie zum Thema hat 20 Minuten mit vier Betroffenen gesprochen. Jetzt spricht die Bundesrätin Karin Keller-Sutter im Interview mit 20 Minuten darüber, was passieren muss, damit diese Zahlen in der Schweiz sinken."

Frau Bundesrätin, eine der betroffenen Frauen wurde von ihrem Partner die Treppe hinuntergestossen und hat ihr ungeborenes Kind verloren. Was lösen solche Geschichten bei Ihnen aus?
Mich macht das sehr betroffen. Ich glaube, es ist eines der schlimmsten Gefühle, wenn man sich in den eigenen vier Wänden bedroht fühlen muss.

Seit Sie Regierungsrätin waren, setzen Sie sich für dieses Thema ein. Warum?
Mich hat es immer beschäftigt, wenn sich Menschen zu Hause nicht wohl, frei oder sicher fühlen können. Ausserdem ist es eine zentrale Aufgabe des Staates, Leib und Leben der Menschen zu schützen. Für mich hat es nie einen Unterschied gemacht, ob jemand auf der Strasse oder in den eigenen vier Wänden geschlagen wird. Es ist die gleiche Gewalt. Vielleicht ist sie sogar noch schlimmer, wenn sie dort ausgeübt wird, wo man sie selbst nicht erwartet.

Die Betroffenen von häuslicher Gewalt haben uns erzählt, dass sie lange mit niemandem darüber geredet haben. Sie schämten sich für das, was ihnen passiert ist.
Ich kann das gut nachvollziehen. Niemand will ein Opfer sein und darüber sprechen müssen, gedemütigt, missbraucht oder geschlagen zu werden. Es ist wichtig, dass Freunde und Familie die Betroffenen unterstützen. Da haben wir alle eine Rolle. Als St. Galler Regierungsrätin habe ich damals ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt eingebracht. Eine Kantonsrätin kam dann unter Tränen zu mir und sagte, sie sei selbst Opfer von häuslicher Gewalt. Bei ihr hätte ich das nicht erwartet. Sie war eine starke, selbstbewusste Frau, aber davon hat sie niemandem erzählt. Mir hat sie sich dann anvertraut.

Letztes Jahr gab es fast 20’000 Fälle von häuslicher Gewalt und die Dunkelziffer ist hoch. Macht die Schweiz genug, um die Betroffenen zu schützen?
Eine gewaltfreie Gesellschaft ist schwierig zu erreichen. Man darf auch nicht vergessen, dass häusliche Gewalt noch nicht lange systematisch bekämpft wird. Wenn aber die zuständigen Behörden gut zusammenarbeiten, können wir Verbesserungen erreichen. Im Frühling 2021 habe ich alle Akteure für einen strategischen Dialog an einen Tisch gebracht und wir haben zehn prioritäre Handlungsfelder definiert. Eine solche Zusammenarbeit kann dazu beitragen, die Gewalt einzudämmen.

Wie viel hat das bisher gebracht?
Der Bund und die Kantone haben sich verpflichtet, die notwendigen Massnahmen umzusetzen. Das ist ein Meilenstein. Die Kantone sind beispielsweise einverstanden, Frauen in einem Pilotversuch einen Notfallknopf zur Verfügung zu stellen. In Spanien zum Beispiel kommt das sehr gut an. Der Notfallknopf wird von den bedrohten Frauen geschätzt. Die Kantone haben sich bereit erklärt, die Pilotprojekte zu starten. Die Vertreterinnen und Vertreter der Kantone und des Bundesamts für Justiz wollten bereits Anfang Jahr nach Spanien reisen und sich ein Bild machen. Dann kam Corona dazwischen, aber die Vorarbeiten laufen weiter. Wir werden in nächster Zeit erfahren, welche Kantone sich für ein Pilotprojekt zur Verfügung stellen.

Es macht den Eindruck, es gehe eher langsam vorwärts.
So ist nun einmal das föderalistische System in der Schweiz. Man muss sich bewusst sein, dass die Polizeihoheit bei den Kantonen liegt und verschiedene Behörden involviert sind. Der Bund kann moderieren, motivieren und unterstützen. Es gibt Kantone, die sind sehr weit fortgeschritten. Sie haben Fachstellen und spezialisierte Fachpersonen bei der Polizei. Es ist nicht überall gleich. Der Vorteil ist, dass man in einzelnen Kantonen testen kann, welche Massnahmen sich bewähren. 

Welche präventiven Massnahmen müssen getroffen werden, damit es gar nicht erst zu häuslicher Gewalt kommt?
Es beginnt immer mit Aufklärung und Erziehung. Wenn Kinder in einer Familie Gewalt erleben, dann erlernen sie ein Muster von Konfliktlösung. Aber Kinder sollten lernen, dass Konflikte im Gespräch gelöst werden und nicht anders. Dass man den Willen des Anderen akzeptiert, auch eine Trennung. Die Frau darf nicht als Eigentum betrachtet werden, das man mit aller Kraft zurückhalten will. Das ist nicht nur die Aufgabe des Staates, es ist eine Daueraufgabe der Gesellschaft.

Frau Bundesrätin,  was wollen Sie nach der Beendigung Ihrer Amtszeit im Bereich häusliche Gewalt erreicht haben?
Ich hoffe, dass allen Involvierten bewusst ist, wie wichtig das Thema ist. Wie wichtig es für das Wohlergehen der Menschen ist, in einem gewaltfreien Umfeld zu leben. Ich hoffe, dass es weniger Gewaltdelikte gibt. Das wäre ein grosser Erfolg, aber dafür muss ich wahrscheinlich sehr lange im Amt bleiben.

Weitere Infos

Dossier

  • Bekämpfung der häuslichen und sexuellen Gewalt

    Die Bekämpfung der häuslichen und der sexuellen Gewalt ist ein Schwerpunkt des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Das EJPD arbeitet zusammen mit dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI), den Kantonen, weiteren Partnern und Organisationen sowie den Städten und Gemeinden an verschiedenen Massnahmen gegen häusliche und sexuelle Gewalt.

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Letzte Änderung 29.11.2022

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