Interview, 16. September 2022: Tagesanzeiger; Charlotte Walser, Beni Gafner
Tagesanzeiger: "Millionen Menschen sind aus der Ukraine geflüchtet. Gleichzeitig steigt die Zahl der Asylsuchenden aus anderen Ländern. Die Bundesrätin sagt, Russland habe wohl auch hier die Finger im Spiel."
In den vergangenen Tagen hat die Ukraine viele Gebiete zurückerobert. Ist ein Ende des Krieges in Sicht, Frau Bundesrätin Keller-Sutter?
Davon gehe ich nicht aus. Wahrscheinlich müssen wir uns auf einen längeren Krieg einstellen. Ich schliesse nicht aus, dass Russland versucht, den drohenden Gesichtsverlust mit einer Eskalation abzuwenden. Interessant wird aber auch sein, was in Russland geschieht. Wenn es zu einer Generalmobilmachung kommen sollte, könnte sich die Stimmung im Land ändern.
Schon über 65’000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind in die Schweiz eingereist. Wie geht es weiter?
Prognosen sind schwierig. Im Moment ist der Zustrom stabil, auf viel tieferem Niveau als im Frühjahr. Für die weitere Entwicklung spielen zwei Faktoren eine wichtige Rolle: das Kriegsgeschehen und der Winter. Internationale Organisationen sind dabei, Unterkünfte für Vertriebene in der Ukraine wie Zelte oder Container winterfest zu machen. Das könnte dazu beitragen, dass die Binnenvertriebenen im Land bleiben. Die Zahl der Flüchtlinge kann zwar wieder steigen, doch wir rechnen nicht mit Zahlen wie zu Beginn des Krieges, als täglich bis zu 1800 kamen.
Manche Flüchtlinge kehren auch zurück, obwohl der Krieg andauert. Wie viele haben die Schweiz wieder verlassen?
In über 2700 Fällen wurde der Status S bereits wieder aufgehoben, bei über 1300 weiteren Fällen wird eine Beendigung derzeit geprüft. Wie viele der Schutzsuchenden in die Ukraine oder in andere Länder reisen, wissen wir aber nicht.
Zeichnet sich bereits ab, dass der Schutzstatus S nach einem Jahr verlängert wird?
Der Schutzstatus S gilt bis im März 2023 und wird gewährt, solange die schwere allgemeine Gefährdung in der Ukraine anhält. Die Schweiz wird auch nicht im Alleingang handeln können. Sie wird sich mit den Schengen-Staaten koordinieren. Auf europäischer Ebene ist die Aufhebung des Schutzes im Moment aber kein Thema. Sollten wir zum Schluss kommen, dass die Sicherheitslage eine Rückkehr erlaubt, gäbe es sicher eine Übergangsfrist bis zur effektiven Rückkehr. Nach dem Bosnienkrieg widerrief der Bundesrat die kollektive Aufnahme rund ein halbes Jahr nach dem Friedensvertrag von Dayton. Danach gab es eine gestaffelte Ausreisefrist – zuerst Alleinstehende, danach Familien mit Kindern.
Ist denkbar, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in bestimmte Gebiete zurückgeschickt werden?
Der Nachrichtendienst geht davon aus, dass Russland weiterhin Ziele in der gesamten Ukraine angreift. Vergangene Woche erzählte mir eine Ukrainerin, dass die Kinder in der Ukraine ein Armband tragen mit ihren Personalien, damit man sie identifizieren kann, falls sie einem Angriff zum Opfer fallen. Das geht unter die Haut. Voraussetzung für eine Rückkehr wäre entweder ein Waffenstillstand mit Sicherheitsgarantien Russlands oder eine international kontrollierte Schutzzone. Davon sind wir im Moment weit entfernt.
Wenn eine rasche Rückkehr unmöglich ist: Braucht es nicht stärkere Integrationsbemühungen? In manchen Kantonen geschieht wenig.
Der Status S ist rückkehrorientiert. Darum hat der Gesetzgeber schon in den 1990er-Jahren nicht primär die Integration in die Schweizer Gesellschaft vorgesehen. Aber die Menschen sollen gerade mit Blick auf die spätere Rückkehr arbeitsmarktfähig bleiben, durch Weiterbildung und Erwerbstätigkeit. Das funktioniert nicht schlecht: Bereits gut 12 Prozent haben eine Stelle gefunden. Wir haben den Kantonen zudem in Aussicht gestellt, dass der Bund erneut eine Pauschale von 3000 Franken pro Person für Sprachkurse zur Verfügung stellt, falls der Schutzstatus S verlängert wird. Aber es ist ein Dilemma: Auf der einen Seite müssen wir an der Rückkehr festhalten, auf der anderen Seite die Integration in den Arbeitsmarkt fördern.
Bröckelt die Solidarität in der Schweiz?
Nein, ich habe den Eindruck, dass die Solidarität mit den Ukrainerinnen und Ukrainern weiterhin gross ist. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass vor allem Frauen und Kinder hier sind.
In der Ukraine werden derweil Kriegsverbrechen verübt. Ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz können sich bei den Behörden melden, wenn sie etwas darüber wissen. Haben sich schon Zeugen gemeldet?
Das Bundesamt für Polizei hat mehrere Ermittlungsverfahren geführt und bisher sechs potenzielle Zeugen in der Schweiz identifiziert. Fünf potenzielle Zeugen wurden bereits einvernommen. Die Erkenntnisse werden an Europol weitergeleitet.
Nicht nur Ukrainerinnen sind auf der Flucht. In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Asylsuchenden aus anderen Ländern stark angestiegen. Wie ist die aktuelle Lage?
Neben den Ukraine-Flüchtlingen sind nach Corona tatsächlich wieder ähnlich viele Migranten unterwegs wie in den Jahren 2015 und 2016, während der Flüchtlingskrise. Das macht mir Sorgen. Sie kommen vor allem über die Mittelmeer- und die Balkanroute. Auf dem Balkan beobachten wir ein neues Phänomen: Vermehrt reisen Personen aus Indien, Kuba, Burundi oder Tunesien visumsfrei nach Serbien und von dort mit Schleppern in den Schengen-Raum. Besonders betroffen ist Österreich mit aktuell rund 56’000 Asylgesuchen. In der Schweiz waren es bis Ende August 12’362. Bis Ende Jahr rechnen wir mit rund 19’000 Asylgesuchen. Wir verzeichnen vor allem viele junge Männer aus Nordafrika und Afghanistan. Die Schweiz wird zudem als Transitland genutzt. Darum arbeiten wir mit Österreich an einem Massnahmenpaket gegen die illegale Migration.
Was sind die Ursachen des Anstiegs?
Es gibt EU-Staaten, die der Meinung sind, dass die Migrationsbewegungen gesteuert sind – nach demselben Muster, wie wir es von Belarus kennen: Flüchtlinge und Migranten werden ausgenutzt, um Europa zu destabilisieren. Dahinter stecke Russland, heisst es. Man muss sich bewusst sein: Wenn über vier Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Europa Schutz suchen und eine halbe Million Menschen aus anderen Staaten ein Asylgesuch stellen, entsteht eine angespannte Situation. Klar ist: Russland nutzt die Energie und die Migration als Druckmittel, um in Europa Zwietracht zu säen.
Und Serbien kooperiert mit Russland?
Das sind Mutmassungen. Aber wenn beispielsweise Inder visumsfrei einreisen können, schafft das natürlich Anreize. Dagegen muss auf europäischer Ebene etwas getan werden. Die Schweiz trägt diese Bemühungen mit.
Was ist genau geplant?
Dazu kann ich mich noch nicht konkret äussern. Mehrere Länder planen bei der EU-Kommission eine Intervention. Es braucht aber auch einen Dialog mit Serbien. Nächste Woche findet in Sarajevo eine regionale Migrationskonferenz statt. Die Schweiz ist im Westbalkan ja stark engagiert. Ich werde die Gelegenheit nutzen, um Gespräche mit Amtskollegen des Westbalkans zu führen. Wenn sie sich der Visumspolitik des Schengen-Raumes annähern würden, wäre schon viel erreicht.
Menschen aus Indien sind in der Regel nicht schutzbedürftig. Auf der Flucht sind aber auch viele Menschen aus Afghanistan und Syrien, die in der Schweiz meist vorläufig aufgenommen werden. Gegenüber Flüchtlingen mit Schutzstatus S sind sie benachteiligt. Ändern Sie das?
Es ist klar, dass man bei der Evaluation des Status S auch die vorläufige Aufnahme berücksichtigen muss. Es geht aber primär um allfällige Anpassungen beim Status S, und man sollte das Fuder nicht mit einer Reform der vorläufigen Aufnahme überladen. Das will ich nicht riskieren. Ich habe nichts dagegen, die vorläufige Aufnahme in einem Folgeprojekt zu vertiefen. Allerdings sind die Vorstellungen im linken und im bürgerlichen Spektrum sehr unterschiedlich. Ich sehe derzeit keine Grundlage für eine mehrheitsfähige Reform.
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Letzte Änderung 16.09.2022