Interview, 2. November 2022: Schweizer Freisinn
Bundesrätin Karin Keller-Sutter blickt auf ein Jahr zurück, das vom Krieg in der Ukraine und der ausserordentlichen Solidarität in unserem Land geprägt ist.
Seit dem Beginn des von Russland geführten Angriffskrieges am 24. Februar 2022 ist es eine Mischung aus Betroffenheit und Verantwortung, die das Handeln des Bundesrates bestimmt. Auch wenn wir als Land die Ereignisse in der Ukraine nur begrenzt beeinflussen können, muss der Bundesrat die Folgen in der Schweiz möglichst aktiv bewältigen. Es gilt zu agieren, statt zu reagieren.
Starker Zusammenhalt im Schengenraum
Unmittelbar nach Kriegsbeginn stand die Koordination auf europäischer Ebene im Zentrum. Drei Tage nach dem Angriff traf ich mich in Brüssel mit den Innenministern des Schengenraums. Die Stimmung vor Ort wird mir wohl immer in Erinnerung bleiben. Sie war geprägt von Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit und dem Willen, dem ukrainischen Volk zu helfen und unsere freiheitlichen Werte zu verteidigen. Rasch wurden die nötigen Entscheide getroffen und die Modalitäten für die Aufnahme von Millionen von Kriegsvertriebenen koordiniert. In der Schweiz hat der Bundesrat kurz darauf den Schutzstatus S aktiviert, fast zeitgleich und abgestimmt mit der EU. Seither haben über 66 000 Vertriebene, vor allem Frauen und Kinder, unbürokratisch kollektiven Schutz in unserem Land erhalten. Eine gute und enge Koordination mit den Kantonen wurde im Rahmen des Sonderstab Asyl (SONAS) erreicht, den ich im März eingesetzt habe. Dieser musste sich sofort vielen Herausforderungen wie Registrierung, Unterbringung und Betreuung der Vertriebenen stellen.
Gleich zu Beginn habe ich auch die Sozialpartner einbezogen, um bessere Voraussetzungen für Integration in den Arbeitsmarkt zu schaffen. Arbeit gibt den Geflüchteten Halt und Unabhängigkeit; sie hilft auch, die Kompetenzen zu erhalten für eine spätere Rückkehr in die Heimat. Das Ziel ist: Arbeit vor Sozialhilfe.
Kurz- und mittelfristige Zukunft vorbereiten
Kurz vor dem Winter bereiten sich die internationale Gemeinschaft, Bund, Kantone und Gemeinden auf einen möglichen Anstieg von Schutzsuchenden vor. Gleichzeitig unterstützt die Schweiz in der Ukraine auch Projekte, welche die provisorischen Unterkünfte für Vertriebene vor Ort winterfest machen. Auch wenn die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Status S gegenwärtig nicht erfüllt sind, müssen wir bereits jetzt die Rückkehr der Schutzsuchenden in ihre Heimat vorbereiten. Zur Erinnerung: Der Schutzstatus S ist rückkehrorientiert. Wir müssen einen Plan haben, wenn dereinst die Rückkehr der Geflüchteten in ihre Heimat wieder möglich sein wird. Mein ukrainischer Amtskollege sagte mir im Juli, dass die Ukraine ihre Bürger für den Wiederaufbau des Landes braucht. Längerfristig gilt es, Bilanz zu ziehen zur erstmaligen Anwendung des Schutzstatus S. Bereits im Juli nahm die Evaluationsgruppe des Status S ihre Tätigkeit auf. Diese Gruppe besteht aus Persönlichkeiten mit viel Erfahrung in der Migrationspolitik. Ihre Aufgabe ist es, die Erfahrungen bis im Sommer 2023 auszuwerten und aufzubereiten und zu prüfen, ob es allenfalls gesetzlichen Anpassungsbedarf beim Status S gibt.
Was mich in dieser Krise besonders beindruckt, hat, war einerseits die grosse Solidarität in der Bevölkerung. Ohne diese hätten wir es nicht geschafft, für so viele Personen in so kurzer Zeit Unterkünfte zu finden. Andererseits sehen wir, dass die Schweiz krisentauglich ist. Die Institutionen sind gut aufgestellt. Sie sind solide und professionell. Das Entscheidende ist aber eher menschlicher als struktureller Natur: Es braucht eine klare Führung. Man muss die Akteure sehr schnell an einen Tisch bringen und die Kompetenzen dort abholen, wo sie vorhanden sind. Was zählt, ist das Ergebnis: die Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer war schnell, beherzt und koordiniert. Darauf kann unser Land stolz sein. Die Flüchtlingsbewegungen, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden, sind Teil der hybriden Kriegsführung Russlands. Sieben Millionen Geflüchtete wurden bislang in Europa aufgenommen. Einige Staaten geraten vor allem auf dem Hintergrund der weiteren Fluchtbewegungen in Richtung Europa an ihre Belastungsgrenze. Ich setze mich deshalb in der Schweiz und auf europäischer Ebene weiterhin dafür ein, dass wir die irreguläre Migration bekämpfen. Wer Schutz braucht, soll ihn in der Schweiz erhalten. Wer keine Schutzgründe geltend machen kann, muss zurückkehren.
Weitere Infos
Dossier
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Ukraine-Krieg: Schweiz gewährt Geflüchteten Schutz
Seit Kriegsausbruch suchen Geflüchtete aus der Ukraine Schutz in Westeuropa. Die Schweiz zeigt sich solidarisch und hat erstmals den Schutzstatus S aktiviert. So kann den Menschen aus der Ukraine rasch und unkompliziert Schutz gewährt werden. Sie erhalten ein Aufenthaltsrecht, ohne ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen zu müssen.
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Letzte Änderung 02.11.2022