"Die Lage bleibt unberechenbar"

Interview mit Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, 13. Juli 2016: Neue Zürcher Zeitung, Heidi Gmür und Simon Gemperli.

Neue Zürcher Zeitung: "Die Asylzahlen sind rückläufig, aber die Situation bleibt volatil. Der Asyl-Verantwortliche des Bundes besteht auf der Fortsetzung der Notfallplanung."

Herr Gattiker, Sie waren am Anfang Ihrer Karriere Berater von Asylsuchenden und Chef des Caritas-Rechtsdiensts. Sehen Sie das Asylwesen heute aus einer anderen Optik?
Die zentrale Fragestellung ist die gleiche wie früher. Es geht darum, zwischen tatsächlich Verfolgten und anderen Personen zu unterscheiden und Letztere konsequent zurückzuführen. Geändert hat, dass nationale Lösungen heute viel zu kurz greifen. Wir brauchen europäische Lösungen.

Neu ist aber auch, dass europäische Staaten ihre Grenze abriegeln oder Obergrenzen für Asylbewerber einführen.
Das sind zwei verschiedene Dinge. Bis jetzt hat kein Staat, der eine Obergrenze ankündigte, diese auch durchgesetzt, weil der Grundsatz des Non-Refoulement vorgeht. In Österreich hat faktisch nichts geändert, das Land verzeichnete im ersten Halbjahr doppelt so viele Asylsuchende wie die Schweiz. Der Schutz der Aussengrenzen – und hier spreche ich nicht von Schliessung – hingegen ist wichtig. Dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung ist ebenso Rechnung zu tragen wie dem Schutzbedürfnis der Flüchtlinge.

Die Kantone haben den Bund aufgefordert, im Rahmen der Notfallplanung auch abhaltende Massnahmen zu prüfen. Was können wir darunter verstehen?
Die geltenden Gesetze bieten Steuerungsmöglichkeiten, die wir bereits heute konsequent nutzen. Unsere Behandlungsstrategie beispielsweise sieht vor, dass schwach begründete Gesuche beschleunigt behandelt werden. Das wirkt. Wir haben praktisch keine Gesuche aus dem Balkan mehr und immer weniger aus Nordafrika.

"Dass sich Italien generell nicht an die Regeln hält, ist eine Unterstellung"

Die Zahl der Asylgesuche ging im zweiten Quartal zurück, auch gegenüber der Vorjahresperiode. Können Sie Entwarnung geben?
Die Lage bleibt unberechenbar. Ich habe den Kantonsregierungen diese Woche einen Brief geschrieben und sie ausdrücklich ersucht, die Notfallplanung weiterzuführen. Auf der zentralen Mittelmeerroute gibt es ungefähr gleich viele Anlandungen wie 2015. Dass die Balkanroute nicht mehr im gleichen Umfang benützt wird, hat mit der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei zu tun. Ob diese Wirkung nachhaltig bleibt, wird sich zeigen müssen.

Ist die Vereinbarung aus politischen Gründen gefährdet?
Der Migrationsdruck auf die Türkei ist sehr gross. Das Land wurde innert kürzester Zeit zum wichtigsten Aufnahmeland in der Krisenregion. Inzwischen beherbergt die Türkei drei Millionen Flüchtlinge. Wird die Situation in der Türkei instabil, wandern die Flüchtlinge weiter.

Bundesrat Ueli Maurer sagte kürzlich, er rechne mit 45 000 Asylgesuchen in diesem Jahr. Ist das übertrieben?
Anfang Jahr gingen wir von etwa 40 000 Gesuchen aus, gleich viele wie letztes Jahr. Wir werden diese Schätzung demnächst aktualisieren. Im Moment haben wir keine Anhaltspunkte, dass sich die Zahl stark nach oben entwickeln wird.

Bund und Kantone haben im Frühjahr drei Notfallszenarien entworfen. Wie wahrscheinlich ist es, dass eines davon eintritt?
Zurzeit sind wir weit weg davon: Die Zahlen sind tiefer als letztes Jahr. Die Vorbereitungen laufen allerdings weiter. So werden an strategischen Orten in Grenznähe Anlaufstellen geschaffen für den Fall eines aussergewöhnlich hohen Zustroms. Heute sind die Behörden von Bund und Kantonen dank der Notfallplanung robuster aufgestellt als noch letztes Jahr.

Der Bund hat im Frühjahr 1400 zusätzliche Plätze in Aussicht gestellt. Haben Sie dieses Ziel erreicht?
Ja. Wir können zusammen mit den erwähnten Anlaufstellen bei Bedarf bis zu 6000 Plätze zur Verfügung stehen.

Laut dem Grenzwachtkorps hat die Zahl der illegalen Grenzübertritte stark zugenommen, jene der Asylgesuche hingegen abgenommen. Wie interpretieren Sie das?
Zur Statistik des Grenzwachtkorps kann ich mich nicht äussern. Ein Grund für eine solche Entwicklung könnte sein, dass die Schweiz Dublin konsequenter anwendet als alle anderen europäischen Staaten. Gleichzeitig ist Italien robuster geworden. Die Hotspots funktionieren, die Migranten werden systematischer registriert. Viele der registrierten Asylsuchenden wissen, dass sie zum Dublin-Fall werden und von der Schweiz wieder nach Italien überstellt werden.

Es gibt immer noch viele Dublin-Fälle, wo es nicht zu einer Überstellung kommt. Das System funktioniert offenbar nicht richtig.
Dublin wirkt nicht nur über die tatsächlichen Überstellungen. Denn das Dublin-Abkommen sagt, dass nur ein Staat für ein Asylgesuch zuständig ist. Das System wirkt also vor allem über die Nichteintretensentscheide. In der Schweiz sind das etwa 30 bis 40 Prozent aller Entscheide. Viele dieser Migranten reisen selbständig aus, landen aber in der Regel nicht in den Asylstrukturen.

Es ist bekannt, dass Italien sich nicht immer an die Dublin-Regeln hält. Sind wir nicht etwas überkorrekt?
Dass sich Italien generell nicht an die Regeln hält, ist eine Unterstellung. Italien hat seine Strukturen stark erweitert und registriert heute viel mehr Asylsuchende als in den Vorjahren. Warum wir uns an die Regeln halten? Diese Regeln haben für uns auch Vorteile. Die Schweiz ist ein berechenbarer Staat, ein verlässlicher Partner, der die Gesetze, die er erlässt, auch umsetzt. Diese Qualitäten machen die Schweiz erfolgreich.

Kürzlich gab das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Praxisverschärfung bei eritreischen Flüchtlingen bekannt. Eine illegale Ausreise gilt nicht mehr als Asylgrund. Was führte zur Erkenntnis, dass diese Leute bei einer Rückkehr nicht mehr gefährdet sind?
Wir führten eine Fact-Finding-Mission durch und aktualisierten anhand weiterer Quellen unsere Lagebeurteilung. Grundsätzlich ist die Menschenrechtssituation in Eritrea weiterhin sehr problematisch, in vielen Fällen verbietet sie eine Wegweisung aus der Schweiz. Geändert wird die Praxis in Bezug auf Personen, die illegal ausgereist sind, aber nicht Gefahr laufen, im Zusammenhang mit dem umstrittenen Nationaldienst behelligt zu werden. Diese Personen haben die Möglichkeit, ihre Situation mit dem eritreischen Staat zu klären.

Eritrea nimmt keine Bürger gegen deren Willen zurück. Ist die Verschärfung nicht einfach politische Augenwischerei?
Nein. Es gehört zu den laufenden Aufgaben des SEM, die Praxis den Gegebenheiten im Herkunftsstaat anzupassen. Wer den Schutz der Schweiz nicht braucht, muss grundsätzlich ausreisen. Bei Eritrea besteht heute die Schwierigkeit, dass zwangsweise Rückführungen nicht akzeptiert werden.

Wird so nicht eine Parallelgesellschaft von Eritreern geschaffen, die hier leben und sich nicht integrieren werden?
Wir wenden das Gesetz an. Es sieht nicht vor, dass Personen ohne Schutzbedarf aufgenommen werden. Wer weggewiesen wird und nicht freiwillig geht, erhält nur noch Nothilfe.

Die Erwerbsquote von vorläufig Aufgenommenen und Flüchtlingen bleibt mit rund 20 bis 30 Prozent weiterhin sehr tief. Warum gelingt die Integration in den Arbeitsmarkt nicht besser?
Viele Flüchtlinge kämpfen mit Traumata und gesundheitlichen Problemen, sprechen die Landessprachen schlecht oder sind ungebildet. Aber auch die staatlichen Stellen, die Integrationsarbeit leisten, sind ebenso gefordert wie die Wirtschaft. Es laufen verschiedenste Bestrebungen, die Erwerbsquote zu steigern. Das Projekt mit dem Bauernverband ist eines davon.

"Bis jetzt hat kein Staat, der eine Obergrenze ankündigte, diese durchgesetzt"

An diesem nehmen aber nur etwa ein Dutzend Flüchtlinge teil. Müsste man nicht mit einer grösseren Kelle anrichten?
Es laufen sehr viele solche Projekte gleichzeitig. Auch hat der Bundesrat dem Parlament eine Vorlage zugeleitet, dank der die Anstellung von Flüchtlingen erleichtert werden soll. Es geht darum, an verschiedenen Stellen Hürden abzubauen. Die Sonderabgabe und andere Fehlanreize sollen beseitigt, eine Integrationsvorlehre für Flüchtlinge eingeführt werden.

Um wie viel kann eine Erwerbsquote von 20 Prozent realistischerweise gesteigert werden?
Bei denen, die schon fünf bis zehn Jahre hier sind, steigt die Quote gegenwärtig auf rund 40 bis 50 Prozent. Es geht darum, diese Zeit zu verkürzen. Sie ist viel zu lang.

Sie führen mit Vertretern der EU seit Monaten Gespräche über die Umsetzung der Masseneinwanderung. Wie realistisch ist eine Einigung noch diesen Sommer?
Wir sind nach wie vor in Konsultationen. Das Referendum im Vereinigten Königreich hat die Gespräche nicht vereinfacht. Ob wir uns einigen können, wird sich weisen.

Sie haben letzte Woche Ihren Gesprächspartner seitens der EU, Richard Szostak, getroffen. Was war das Ergebnis?
Wichtig zu wissen, ist, dass die EU-Kommission noch gar kein Verhandlungsmandat hat. Es finden also zurzeit Konsultationen statt. Über diese haben wir Diskretion vereinbart.

Letzte Änderung 13.07.2016

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